Hans-Joachim Arndt: Geschichtsbewußtsein und Zukunftsoption der Deutschen

I

Ich nähere mich dem mir gestellten Thema nicht ohne Zagen. In der Nomenklatur der neuen Computersprache an meiner Universität Heidelberg hat die Philosophisch-Historische Fakultät, der mein Fach zugehört (und sie ist noch die erste unter den sechs Nachfolgefakultäten der alten großen Philosophischen Fakultät), die Nummer 8. Die Theologie hat immer noch die Nummer 1, und zwischen der Theologie und meiner Politik stehen die Jurisprudenz, also die Rechtswissenschaft, und ganze fünf medizinische Fakultäten; so weit entfernt ist die Politik also inzwischen von der Theologie. Und das bezieht sich nicht nur auf Heidelberg und keinesfalls nur auf mich als einen Außenseiter innerhalb der Politikwissenschaft, als der ich gelte. Man mag die Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland (die es dort erst seit 1950/52 gibt), oder in Frankreich, oder in Großbritannien,oder in den USA, also in der ganzen westlichen Welt, drehen und wenden wie man will, man wird dort keinerlei Bezug zur Theologie, auch überhaupt nur zu konfessioneller Religiosität mehr finden.

Ein bekannter Politikwissenschaftler meiner Generation, der jetzige bayerische Kultusminister Hans Maier, ist praktizierender Katholik und derzeit sogar Präsident des Katholikenverbandes. Aber selbst in seinen vielen wissenschaftlichen Schriften findet sich nur ganz, ganz selten ein Quentchen Thomismus, eine Anlehnung an die katholische Soziallehre – außer bei historischen Abhandlungen; kein Rekurs auf päpstliche Enzykliken; und so ist es auch mit denjenigen Politologen, die sich mehr dem protestantischen Lager zurechnen: keine lutherische Staats- oder Gesellschaftsauslegung, strikte Trennung zwischen Theologie und Politik.

Und das steht in langer Tradition; die geistigen Väter des politischen Denkens in der Moderne haben diese Trennung praktiziert von Thomas Hobbes über Jean Jacques Rousseau, Immanuel Kant bis schließlich Karl Marx, der, von seinem Ansatz aus wohl zu Recht, meinen konnte, daß die Politikkritik die Religionskritik voraussetzte, ja daß die Destruktion der politischen Herrschaft, wie er sie vorzufinden meinte, die Destruktion der Religiosität voraussetzte; Religion = Opium des Volkes.1

Diese – fast muß man sagen: argwöhnische, beflissene – Freihaltung des politischen Denkens vom Theologischen fußt auf Realitäten. Denn der Staat, wie wir die Einheit des Politischen nennen seit dem Anbruch der Moderne, seit dem Ausgang des Mittelalters, – dieser Staat ist von Beginn ab eine nicht-, gar anti-theologische Einrichtung gewesen. Die Entwicklung, ging sie nun in deutscher Manier über „cujus regio ejus religio“ als eine Art der Mediatisierung des Religiösen, oder gehe sie in französische Richtung mehr auf eine Laizisierung des Staates bis zur heutigen strikten Trennung von Religion und Kirche einerseits, Politik und Staat andererseits, – immer steht die Entwicklung in der großen Tradition des Unhaltbarwerdens oder für Unhaltbar-Gehalten-Werdens der engen Verbindung von Sacerdotium und Imperium, wie es einst in der Antike und im Mittelalter gegeben war. Nicht nur der Papst war eine sakrale Figur, ein sakrales Amt, auch das Kaisertum galt als im Sakralen ruhend. Solche „Politische Theologie“ ist nun unhaltbar geworden.2 Das fanden bereits die modernen Politiker wie die modernen Politologen seit dem großen Kirchenschisma, das zu den konfessionellen Bürgerkriegen führte, und so waren es dann zuerst auch spanische Juristen, die mit dem Ruf „Silete theologi in munere alieno“ (schweigt, ihr Theologen, in einer Welt, die euch nichts mehr angeht, nämlich der politischen Welt) begannen, die Theologie zurückzudrängen.3 Und wir, die Politologen, sind nichts anderes als die Erben dieser Enttheologisierung.

Nun erfahren wir aber, daß es im Nachvollzug dieser Enttheologisierung doch wieder zu einer nunmehr gottesfernen religionsfernen, auf jeden Fall bibelfernen, Ideologisierung des Politischen gekommen ist. Nicht mehr ist von Theodizee die Rede, vom Gang Gottes durch die Geschichte und die Welt, sondern es werden „säkularisierte“ Geschichtsphilosophien dem politischen Handeln unterlegt und gerade das, was die Politik, die staatliche Politik und das Denken über Politik, die Staatsphilosophie so unangreifbar machen sollte: das Fundieren auf Vernunft, ist es jetzt, das über rationalistische, und schließlich revolutionäre, also die Geschichte voll in die Hand nehmen wollende Figuren eine neue, ja man müßte sagen, Quasi-Theologisierung des Politischen hervorgebracht hat.4

Und hier ist nun auch geradezu der Einstieg gegeben für das, was ich als Analyse der Lage qua Politologe zum Thema „Schuld und Vergebung in der Geschichte“ sagen möchte. Ein Vorspruch davor noch: Wir können in der Politik, wie auch im Nachdenken über Politisches nicht an einem Grundexistential menschlichen Daseins vorbeigehen. Nennen wir das einmal die kollektive Verfaßtheit (das Fremdwort dafür lautet heute meist: „Identität“) der politischen Existenz. Die politische Frage des „Wer sind wir eigentlich?“, „Woher kommen wir?“, oder (individualistisch ausgedruckt) „Wozu gehöre ich?“, „Wem oder was gehört meine politische zentrale Obligation?“ – diese Frage ist letzten Endes unumgehbar. Zu irgendeinem politischen Kollektiv gehört ein Mensch immer.5 Man kannte die traurige Berühmtheit eines Garry Davis, des „Weltbürgers Nr. 1“, der versuchte, unter Zerreißung aller Pässe nur als Weltbürger zu existieren. Er endete, so erzählt man sich, als Dauerpassagier auf der Fähre zwischen Hongkong und Macao und wurde in keinem Hafen an Land gelassen, weil er heimatlos, landlos, vaterlandlos geworden war – und damit unerwünscht!

Meine Ausführungen gehen von der Voraussetzung aus, daß die hier in Mitteleuropa heute lebende Bevölkerung noch als „Deutsches Volk“ bezeichnet werden kann. Daß also der zentrale politische Bezugspunkt, auf den wir abstellen müssen (unsere Identität), nach wie vor als die der „Deutschen“ zu erkennen ist. Das ist offenbar nicht mehr so ganz unumstritten; allein diese Grundtatsache, daß wir politisch (nicht nur ethnisch) Deutsche sind, ist nicht mehr „herrschende Auffassung“. Unter der Jugend schon gar nicht. Wenn ich z.B. an Studierende die Frage stelle, „Wer, wem oder was gegenüber seid Ihr zentral entscheidend verpflichtet, aus welcher Haut könnt Ihr nicht heraus?“ – dann erhalte ich alle möglichen Antworten, primär die Klassenantwort: Wir sind Klassenangehörige!, oder aber selbst die Rassenantwort wird eher noch gegeben, oder die Geschlechterantwort: Ich bin Frau, Du bist Mann! Ganz selten, daß einem jungen Menschen heute als erstes einfällt, sich sozusagen schicksalhaft als Deutscher zu sehen. Das hängt eng mit der verbreiteten Scham zusammen, ein solcher heute noch ohne heftiges Schuldgefühl sein zu können.

An dieser Stelle ein paar formale Überlegungen dazu, wie man wird, was man politisch ist: Die Zugehörigkeit, das Dasein innerhalb einer politischen Kollektivität ist für einen Politologen (Theologen mögen abweichend darüber denken) nicht anders als „bloß historisch“ zu erklären. Es gibt keinen metaphysischen Imperativ, Deutscher oder Engländer, oder Sowjetrusse, oder Amerikaner zu sein, sein zu müssen. Dies drückt sich schon rein juristisch in der schlichten Tatsache aus, daß die Staatsangehörigkeit, vermittelt durch die Volkszugehörigkeit, die Nationenzugehörigkeit, heute noch für den Juristen als einer der letzten „Status“ gilt, so wie das Geschlecht, in das man hineingeboren wird (Ausnahmen bestätigen die Regel – Geschlechtsumwandlung –; es gibt auch Wechsel der Staatsangehörigkeiten, das sind aber eben Ausnahmen). Überwiegend werden alle Menschen in der Welt in ihre Volks- und Staatsangehörigkeiten hineingeboren, auch wir als Deutsche. Da gibt es verschiedene Rechtskonstruktionen, entweder das „jus sanguinis“: man hat die Staatsangehörigkeit der Eltern oder mindestens des Vaters, oder das „jus soll“: man hat die Staatsangehörigkeit des Territoriums, innerhalb dessen man geboren wird. In den USA z.B. gilt nach wie vor diese letztere „akquisitive Staatsangehörigkeitsregelung“ eines einstigen Einwanderungslandes. Kurz: die Zugehörigkeit zum politischen Kollektiv ist ein historisches Existential.

Der große französische Religionswissenschaftler und Historiker Ernest Renan wird meist falsch interpretiert, wenn man von ihm dieses berühmte Wort: „La nation est un plébiscite de tous les jours“ zitiert; er meinte damit keine beliebige Option in beliebiger Richtung, sondern die Notwendigkeit der kollektiven Bejahung der kollektiven Geschichte.6 Falsch, unhistorisch, unwirklich ist jedenfalls die Auffassung, daß der Einzelne in die Völker, die Staaten eintritt wie in einen Verein und dann auch wieder austreten kann. Deutscher zu sein, wäre dann eine Sache der Beliebigkeit; je nachdem ob die staatliche Schutz- und Wohlfahrts-Funktion erfüllt wird oder nicht: wenig Steuern, wenig Kriegsdienst, große Sicherheits-Leistung, hohe Sozialleistung – dann bin ich Deutscher; wenn das nicht mehr erfüllt wird, dann trete ich aus und werde Holländer oder Däne. So ist es eben nicht; Renan wußte das auch, denn (in weniger oft zitierten Passagen seines Werks) sprach er davon, daß schicksalhafte Dinge in der Vergangenheit miteinander getan oder auch nur erlitten zu haben und solche gemeinsam für die Zukunft auch vorzuhaben, das sei es, was ein Volk, eine Nation ausmache.7 Und dazu gehören natürlich auch die Untaten, die man miteinander getan oder erlitten hat.

Mit anderen Worten: Das Dasein eines Kollektivs speist sich aus nichts anderem als aus den Aufgaben, die man als gemeinsame erkennt, und aus der Art der Beantwortung dieser Aufgaben, wie man sie im Verlauf der Historie gemeistert oder nicht gemeistert hat, und der Erinnerung aus beidem.8 Gemessen an jeder Art von normativem Begreifen (dazu gehört doch wohl auch das theologische Begreifen) ist also das Dasein eines Volkes einer Nation, eines Staates „bloß historisch“ – Fremdwort: es ist „kontingent“.

Es ist „nur zufällig“.9 Es gilt kein metaphysischer Zwang, kein metaphysisches Gebot, daß es Deutschland geben soll, daß Deutsche sein sollen oder Franzosen. Mehr: es gibt auch kein metaphysisches Gebot, daß das Identifikationsmerkmal des Politischen überhaupt das Nationale sei, das war es früher, vor 1800 etwa, z.B. nicht. Es gibt noch nicht einmal ein politisches Gebot, ein metaphysisches Gebot, daß das dominierende Politik-Merkmal „Staatlichkeit“ sein solle. Es hat früher andere politische Ordnungsformen als Staaten gegeben (etwa: „Reiche“). Was jeweils „herrscht“, ist eine empirische Frage. Für die Gegenwart kann ich z.B. den empirischen Nachweis dafür bringen, daß das politische Kollektiv als Staat, ja gar als Nationalstaat existiert, und daß entsprechend das Dogma von der „Klassenherrschaft“ empirisch nicht eingelöst werden kann; aber wir können nicht a priori ausschließen, daß in 100 Jahren das politische Gesellungsprinzip das Klassenprinzip sein wird. Das ist „historisch kontingent“.

Im übrigen ist das alles nicht so abstrakt und sehr weit hergeholt, wie es in gelehrter Sprache klingt, denn dasselbe gilt nämlich auch für die Identität jeder individuellen Person. Wie „identifiziert“ man denn einen Menschen? Die krude Methode der Kriminalisten, den Fingerabdruck, lassen wir einmal beiseite. „Identifiziert“ wird ein Mensch durch sein Leben. Wie lebt er, in welche Lagen gerät er, schuldhaft, nicht schuldhaft, und wie löst er sich aus diesen Lagen. Und vollgeschrieben ist das Buch des Menschen (sein Paß, seine Urkunden) in der Tat dann erst mit seinem Tode, dann kann sich nichts mehr verändern. Auch das Leben des Menschen ist insofern (Theologie ausgeklammert) „kontingent“. Es ist diese Kontingentfrage übrigens, die die theologische Frage nach sich zieht.

Aber die Politologen können eben seit den Konfessionskriegen nicht, mehr so leicht in die Theologie ausweichen, man kann es auch so ausdrücken: So wie die Identifizierung eines einzelnen Menschen durch seine Biographie erfolgt, erfolgt die Identifizierung jeden Kollektivs durch seine Geschichte.

Und da ist es natürlich so, daß die jeweils letzten Jahresringe, die der Baum des Wachstums eines Kollektivs angesetzt hat, und daß die letzten großen Zäsuren am drückendsten sind, weil sie es sind, die es noch zu bewältigen gilt. Das ist bei uns eben das Ereignis, das mit dem berühmten 8. Mai 1945 seinen vorläufigen Abschluß oder seine Zäsur erfahren hat. Und es ist von daher kein Zufall, sondern es ist sozusagen Schicksal aller menschlichen Kollektive, repräsentiert in den Deutschen, daß man zum 8. Mai 1985 diese Frage wieder bedrängend gestellt hat.

II.

Ich möchte zur Überleitung etwas im Wege des Vergleichs zu erwägen geben. Ich weiß, Vergleiche hinken, und es wird in aller Regel bei Komparationen einem leicht der Kopf gewaschen, aber der Historiker (und ich bin primär Historiker) kann nicht ohne Vergleiche leben.

So dürfen wir denn wohl einmal fragen: Wie kommt es eigentlich, daß die Deutschen 40 Jahre nach Kriegsende, nach dem Waffenstillstand, nach der bedingungslosen Kapitulation, nach dem Ende des Dritten Reiches immer noch fast blutwarm mit diesem Problem befaßt sind? Insbesondere von außen werden sie immer wieder bedrängend dazu angegangen, denn es sind ja die Anfragen, die aus Jerusalem, aus Washington, aus Paris kommen, die uns da bedrängen. Nun stelle man sich bitte zum Vergleich einmal vor, im Jahre 1855, 40 Jahre nach dem Untergang eines großen revolutionären Regimes – des Napoleonischen –, 40 Jahre nach Waterloo, nach dem Wiener Kongress, liefen zu den Jahrestagen in Paris öffentlichkeitswirksame Konferenzen und Treffen, in denen die Sieger von Waterloo versuchten, den Franzosen klar zu machen, wie sie diesen 40. Jahrestag ihrer einstigen Besiegung und Befreiung zu begehen hätten. Ein solches Gedankenexperiment für das Jahr 1855 erscheint unrealistisch.

Demgegenüber können wir das heutige unablässige Gebot zur Aufarbeitung der Vergangenheit für Deutsche verstehen, sobald wir uns klar machen, was da eigentlich passiert ist. Was bedeutet dieser 8. Mai 1945? Das war formell, wenn man die klassischen Begriffe der Juristen und Politikwissenschaftler anlegt, die Stillstellung von Kriegshandlungen, Waffenstillstand, allerdings ein sehr markanter, nämlich eine bedingungslose Kapitulation. Insofern war es zwar noch nicht die endgültige Beendigung eines Krieges, aber doch die Stillstellung eines Krieges, ein Sieg; es gab Sieger, es gab Besiegte. Das hat es in der Weltgeschichte oft gegeben und seitdem übrigens auch noch weiter.

Mit diesem Zweiten Weltkrieg hat es aber nun eine besondere Bewandnis, denn er war nicht nur „total“ gewesen – wir wissen inzwischen, was das bedeutet: keinerlei Bereiche blieben verschont, es gab keine Trennung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten, also zwischen Kriegsteilnehmern und Zivilbevölkerung, es gab auch keine Lebenszone, die unbedroht blieb. Es war ein Wirtschaftskrieg, Finanzkrieg, Blockadekrieg, Bombenkrieg, ein Gesinnungskrieg, ein Propagandakrieg – dieses Umfassende, dieses Flächendeckende, das „Totale“, das kennen wir. Woran wir nicht immer denken, ist, daß dieser Krieg auch ein „absoluter“ war. Absolut in dem Sinne, wie es die deutsche Philosophie etwa seit Hegel benannte oder wie es ein Begriff auffaßt, der häufiger benutzt wird, dasselbe aber bedeutet: Dieser Krieg ist als ein „gerechter“ geführt worden. So sind beileibe nicht alle Kriege verstanden worden; z.B. ist der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland 1870/71 nicht als „gerechter Krieg“ geführt worden. Ein gerechter Krieg bedeutet, daß jede Seite von der Annahme ausgeht, die alleinig gute und gerechte Sache zu vertreten, was u.a. zur Folge hat, daß der Gegner, der Feind, zum Verbrecher oder gar zum Bösen im moralischen Sinne wird. Solch Krieg erwirbt den Charakter eines Kreuzzugs.

Was wir uns in aller Regel nicht so sehr klar machen, ist, daß diese moralische Gesinnungskomponente, diese „absolute“ Gerechtigkeitskomponente, diese fanatische Kreuzzugskomponente in diesem II. Weltkrieg – übrigens in Teilen auch schon im I. Weltkrieg – auf allen Seiten vertreten war, nicht nur etwa auf der deutschen Seite.

Wenn man es genauer analysiert, wird man feststellen, daß dieser Charakter eines gerechten, eines absoluten Krieges, eines säkularen Kreuzzuges im Grunde bedeutet, daß hier revolutionäre Elemente (und das heißt: innenpolitische Struktur- und Systemziele) sich, auf dem Wege der zwischenstaatlichen Gewaltauseinandersetzung eines Krieges auswirken. Wenn wir die Frage stellen, was die verschiedenen kriegsteilnehmenden Parteien im II. Weltkrieg eigentlich vertreten haben, so werden wir feststellen, daß die Sowjetunion etwa ihre sozialistischen Errungenschaften von 1917 verteidigte, daß der Westen, der eben deshalb als „geschlossenes Lager“ betrachtet werden kann, die Errungenschaften seiner liberalen bürgerlichen Revolution (Franzosen von 1789, Amerikaner von 1776, Engländer aus dem 17. Jahrhundert) zu halten, durchzusetzen sich bemühte, und die deutsche Regierung hat ihre revolutionären Anliegen der „Nationalen Revolution“ von 1933 über die Grenzen durchzusetzen sich bemüht – als wie immer „reaktionär“ die Gegner dies auch betrachten mögen.

Man erkennt wohl, was mit „Revolution“ hier eigentlich gemeint ist: der rationalistische, konstruktivistische Entwurf einer politischen Welt-Erstellung ohne jede jenseitige Hilfe, nur als menschliches Machen unter Unterstützung durch eine Geschichtsphilosophie. Hier sind drei Parteien jeweils für verschiedene Revolutionsziele angetreten. Daß es drei sind, hat man später noch genauer erkannt, als nämlich nach dem Ausschalten der einen Partei, der Deutschen und ihrer Verbündeten, nur mehr zwei übrigblieben, die „Strange Alliance“ zwischen „West“ und „Ost“, die nur der NS-Gegner zusammengeführt hatte und die dann im Kalten Krieg bis heute (trotz „Entspannung“) ihre revolutionären Unvereinbarkeiten weiterpflegte.

Es ist dieser revolutionäre Charakter des II. Weltkrieges, der das Gesinnungselement in den Vordergrund bringt, das Kreuzzugselement. Es ist dieser revolutionäre Charakter, der auch das Element der Unvereinbarkeit prägt. Es gibt am Ende nicht nur Besiegte und Sieger, es gibt auch Befreite und Befreier, und es ist keine Vereinbarung möglich mit der alten Identität des Gegners, im Gegensatz zu einem klassischen zwischenstaatlichen Krieg, da kann dann mit dieser Identität zum Schluß paktiert und traktiert (also Frieden geschlossen) werden.

Unter dem Aspekt einer bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung jedoch kann kein „Friede geschlossen“ werden, denn der Bürgerkrieg ist ja dadurch ausgezeichnet, daß es um den Besitz einer Legitimation im selben Gebiet geht, aber in diesem selben Gebiet kann es nicht zwei Arten von Legitimation geben.10 Man spricht eben mit Recht vom Zweiten Weltkrieg als einem „Weltbürgerkrieg“,11 einer Auseinandersetzung, in der des einen Identität am Ende absolut negiert werden muß. Mit dem Gegner kann man nicht traktieren, man kann mit ihm auch insbesondere keinen Frieden schließen, sowenig wie mit einem Bürgerkriegsgegner; ein solcher Gegner muß endgültig erledigt werden, wenn nicht physisch so doch zumindest geistig. Er darf seine Legitimation nicht weiter vertreten. Die Identität des Feindes kann nicht respektiert werden, sie gilt geradezu durch den Sieg als „widerlegt“.

Eine der zentralen Problematiken für heute liegt nun darin, daß die Deutschen nicht genau wissen, und ihre Sieger/Befreier nicht genau darlegen, ob sie als Nationalsozialisten „widerlegt“ worden sind oder auch als Deutsche. Das hängt offenbar damit zusammen, inwieweit man Deutschheit und Nationalsozialismus zusammen sieht.

Deutlich dürfte geworden sein, was in all diesen Zusammenhängen das Element der „Befreiung“ bedeutet. Befreiung bedeutet Umkehr, Umpolung, Umerziehung, Umvolkung zur geschichtsphilosophisch unterlegten Politik-Gesinnung des Siegers. Und wir sind bekanntlich als Deutsche (– wenn ich „wir“ sage, spreche ich immer für die DDR-Bewohner mit, nicht nur weil ich aus Magdeburg stamme, sondern auch weil die DDR von Deutschen bewohnt ist –) zu zwei verschiedenen, miteinander nicht zu vereinbarenden Freiheitsauffassungen befreit worden.

Leicht verständlich wird, warum die Deutschen – nicht ganz so kraß auch die Japaner, überhaupt nicht dagegen die Italiener – bedingungslos kapitulieren mußten: weil von ihrer Identität nichts übrigbleiben durfte, noch nicht einmal ein Stückchen Dönitz-Regierung – die den Alliierten die Verwaltung erleichtert hätte.12

Kein Frieden mit der alten Identität; man wird an ein berühmtes Wort aus den Zeiten der französischen Revolution erinnert: „En temps de revolution taut ce qui est ancien est ennemi.“ In Revolutionszeiten ist alles Alte Feind, alles was zum Ancien Régime gehört.

Kleiner Seitenblick: Diese neue Lage, die den Krieg zu einer „Fortsetzung der Revolution mit anderen Mitteln“ macht – frei nach Clausewitz: nicht nur Fortsetzung der Staatspolitik mit anderen Mitteln –, diese neue Lage schafft auch die neue Problematik von Widerstand und Kollaboration, von Résistance und Collaboration. Für die klassische zwischenstaatliche Auseinandersetzung – Beispiel immer noch der deutsch französiche Krieg von 1870/71 – sind das gar keine Probleme. Der französische Bürgermeister, der der deutschen Besatzung Hafer für die Pferde ausliefert gegen Beschaffungspapiere, kann nie als Kollaborateur angeklagt werden, solange die debellierende Macht, die Besatzungsmacht, sich an die Kriegsregeln, die später dann in der Haager Landkriegsordung 1899/1907 genauer gefaßt wurden, hält. Und dazu gehört z.B. die Respektierung eines gewissen garantierten Maßes von Identität (von „Verfassung“) des besiegten Gegners, so daß dieser Bürgermeister, als „alter französischer Bürgermeister“, noch amtieren und auftreten kann: die Zivilverwaltung, wie alles Zivile überhaupt wurde unverletzt belassen.

Den Vorwurf der Kollaboration kann man einem Besiegten erst dann machen, wenn der Sieger die Identität anzutasten oder gar zu vernichten sich anschickt. Und auch dann erst wird Widerstand, Résistance, legitim (nie: „legal“), vorher (und legal auch nachher) ist es „Heckenschützentum“, „Guerilla“, „Terror“ – und kann mit dem Tode bestraft werden. Infolgedessen war gegen den Revolutionsgegner Drittes Reich in all den Ländern, in denen die Nationalsozialisten Identitäten beschädigten, z.B. die Juden verschleppten, Résistance legitim!

Übrigens: mit zunehmender Entfernung von 1945 darf wohl die Frage gestellt werden, wie es mit Kollaboration und Widerstand für die Zeit nach der Besiegung der Deutschen gestanden hat und noch steht. Es ist eine der heißen Fragen, die man heute aufwerfen kann, aber man sollte sie, inmitten eines geteilten Volkes, nicht verschweigen.

III.

Wenn nach dem Siege in einem Krieg, der Fortsetzung der Revolution mit anderen Mitteln war, dem Gegner seine Identität nicht belassen werden kann, wenn er umgeschult, umerzogen, umgeändert werden muß, so bleibt nun für den Sieg von 1945 zu erörtern, „als was“ die Deutschen weiter existieren konnten. Die Antworten darauf sind verhältnismäßig eindeutig und einfach zu geben für die sowjetische Besatzungszone, die spätere DDR. Dort wurde und wird als einzige Möglichkeit der legalen politischen Existenz offengelassen das Einschwören auf die Identität des Siegers. Dieses Einschwören, ein Akt des Gesinnungsausdrucks, konnte und kann geschehen durch „gesellschaftliches“ Tätigwerden, etwa durch Eintreten in eine bestimmte Partei (nicht notwendig die SED). Es ist dieser Akt, der dann auch eventuelle Schuldvorwürfe null und nichtig machte: die DDR schüttelt „deutsche“ Kontinuitäten und Staatensukzessionen ab; sie haftet weder für deutsche „Vorkriegsschulden“ finanzieller Art noch für „Kriegsverbrechen“ moralischer Art.

So z.B. konnte ein ehemaliger HJ-Führer, der SED-Mitglied wurde, sicher sein, daß ihm die HJ- oder NSDAP-Mitgliedschaft bis heute nie wieder vorgeworfen wurde – anders etwa als westdeutschen Partei- und Regierungschefs oder Staatspräsidenten. Einem ehemaligen hohen Wehrmachtoffizier wie Luitpold Steidle, um nur einen Namen zu nennen, Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland, nach 1945 Minister in Brandenburg, pensioniert als Oberbürgermeister von Weimar, ist niemals in oder von der DDR seine hohe Wehrmachtsfunktion „angehängt“ worden, eben weil er gültig „abgeschworen“ und „umoptiert“ hatte.13 Und so ist es mit der gesamten „offiziellen“ DDR: an ihr läuft der Holocaustvorwurf wie an einer Ölhaut ab.

Warum? Weil der offiziellen Lesart nach in der DDR gar nicht mehr die „Deutschheit“ (in „kapitalistischer“ Formation gilt sie, laut der Faschismus-Theorie des Marxismus, als Verursacher von Holocaust) die entscheidende politische Identität darstellt, sondern der Sozialismus. Man schaue sich nur die letzte Fassung der DDR-Verfassung an, immer mehr, immer deutlicher ist die sozialistische Natur der DDR in den Vordergrund getreten, getreu der klassischen marxistischen Formel zum Verhältnis zwischen Klasse und Nation, durch Stalin um den I. Weltkrieg entwickelt: „National in der Form sozialistisch im Inhalt.“

Das erklärt heute noch z.B. die beanspruchte Legitimität der sogenannten „Breschnew-Doktrin“: die Tschechoslowakei kann „selbständig“ bleiben, sogar Souveränität beanspruchen, solange sie bloß sozialistisch bleibt (im Sinne des von Moskau bestimmten Sozialismus) – und dasselbe gilt für die DDR wie für alle anderen Staaten des „sozialistischen Lagers“.

Für die DDR ist also die Frage der „post-nationalen Identität“ nach 1945 klar und völlig gewiß zu beantworten: Deutscher, das ist bloß noch ein sekundäres ethnisches Element, primär ist man Sozialist Moskauer Prägung. Und es ist verhältnismäßig genau festzustellen, was das jeweils bedeutet: da muß man nur die Verlautbarungen des Politbüros des ZK der UdSSR getreulich beachten, bei Änderungen derselben also schnell schalten auf neue Ex-cathedra-Interpretationen hin. Wir begegnen hier einer Art politischer Offenbarungsreligion mit Wechsel der Inhalte oder Entwicklung der Inhalte, aber wenn man darauf sich einstellt, dann lebt man „sicher“.

Etwas schwieriger ist das Problem für die Bundesrepublik gelöst, als was die Westdeutschen nach 1945 weiter existieren sollten. Die markante Antwort ist natürlich „als Demokraten“ – aber was bedeutet das denn genau? Die Zugehörigkeit, die gesinnungsmäßige Option für ein Verfassungs- und Moralsystem des Westens, insbesondere repräsentiert durch den „democratic way of life“ der Hegemonialmacht des Westens, der USA, – dies als Antwort erscheint zu vage, schon gar nicht „justitiabel“. Näher an legale Präzision führt schon die Klausel von der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Verfassungstreue, Verfassungsverrat, Verfassungsbruch, Verfassungsschutz stehen deshalb in der Debatte über „Sicherheit“ (innere und äußere Sicherheit) der Bundesrepublik im Vordergrund, sogar von „Verfassungspatriotismus“ ist die Rede.14

Lassen wir die Frage, wie „deutsch“ das Grundgesetz eigentlich ist, einmal beiseite (die Planungen des Kreisauer Kreises zum 20. Juli, letzte „autochthone“ Verfassungsentscheidung deutscher Herkunft, sahen deutlich anders aus, als das, was der US-Militärgouverneur Clay gegen den Widerstand der westdeutschen Ministerpräsidenten in den Koblenzer Beschlüssen seinerzeit erzwang). Wir sind bisher nicht allzu schlecht gefahren mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik. Und es ist auch so, daß die deutsche Bevölkerung, wenn sie schon wie Buridans Esel zwischen den zwei Optionen: Hie amerikanische, dort sowjetische „Freiheit“, steht, ganz entschieden für die amerikanische Freiheit optiert. Aber das Geschichts- und damit Selbstverständnis der Amerikaner bedeutet nicht unbedingt auch den Selbstausdruck der politischen Identität für Deutsche. Man kann sagen, auch die hiesige Option hat einen Schuß „Entdeutschung“ gefordert. Verfassungsbestimmungen können keine Fragen der nationalen Identität klären; sie antworten auf die Frage: „Was für ein Staat ist dies?“ (Antwort: eine freiheitliche, soziale, parlamentarische, föderale Demokratie), – aber nicht auf die Frage: „Wessen Staat ist das?“ (Antwort: der Staat der Deutschen).

Sogar nur in geringerem Maße ihrer revolutionären Doktrin verbundene Amerikaner können vom Kreuzzugs-Geist ergriffen sein. Die Älteren von Ihnen werden sich noch des berühmten US-Generals Patton erinnern, der den Deutschen als einer der weniger „fraternisierungsfeindlichen“ amerikanischen Generäle erschien, als ein klassischer „Staatsgeneral“ eher denn als ein „Revolutionsgeneral“. Immerhin hat auch dieser General Patton bei der Landung seiner Armee in Sizilien, als sie das erste Mal europäischen Boden zu betreten hatte, 1943 folgenden Tagesbefehl erlassen:

When we lande we will meet German and Italian soldiers whom it is our honor and privilege to attack and destroy. Many of you have in your veins German and Italian blood, but remember that these ancestors of yours so loved freedom that they gave up hone and country to cross the ocean in search of liberty. The ancestors of the people we shall kill lacked the courage to merke such a sacrifice and continued as slaves.“ 15

Jeder General zieht etwas die Schubladen der Vollmundigkeit wenn er seine Truppen anfeuern will, aber welchen Tenor er dabei benutzt, ist doch wohl bezeichnend. Dies als ein Hinweis darauf, daß eine Umerziehung der Deutschen, nicht nur der Nationalsozialisten, für erforderlich gehalten wurde. Als Folge finden wir heute noch die quälende Debatte bei meinen Kollegen, den Historikern, an den westdeutschen Universitäten über den sogenannten „Deutschen Sonderweg“, dem es endlich abzuschwören gelte.16 Langsam melden sich jetzt – auch im Ausland17 – Gegenpositionen, die deutlich machen, daß jedes Volk seinen geschichtlichen Sonderweg gegangen ist; keiner davon kann als besser, keiner als schlechter bezeichnet werden, – solange man nicht eine alleinseligmachende Geschichtsphilosophie zu besitzen glaubt, die den Maßstab für alle abgeben soll.

Es dürfte klar sein, warum es in einer solchen Situation, nach einem bedingungslosen Waffenstillstand, viel schwerer ist, zu einem Frieden zu finden, als etwa nach einem deutsch-französischen Krieg, der zwischen als gleichrangig angesehenen Identitäten ausgefochten wurde, die es zu erhalten gilt. Ich sagte vorhin in einem Nebensatz, daß auch schon der I. Weltkrieg Elemente einer weltrevolutionären Bürgerkriegsauseinandersetzung trug. Das war genau der Grund, weshalb der Kriegschuldparagraph 231 in den Versailler Frieden hineingekommen ist. Zum Vergleich zitiere ich aus einem anderen Dokument der Weltgeschichte, dessen Namen ich erst danach nenne:

Es soll auf beiden Seiten in ewige Vergessenheit geraten und eine Amnestie alles dessen eintreten, was von Beginn dieser Unruhen an nur irgendwo oder irgendwie von dem einen oder anderen Teile hinüber und herüber an Feindseligkeiten geschehen ist. Keiner darf somit um derent- oder irgendeiner anderen Ursache oder eines Vorwandes willen, dem anderen künftig irgend welche Feindseligkeiten oder Feindschaft, Belästigung oder Hindernis hinsichtlich seiner Person, seines Standes, seines Besitztums, seiner Sicherheit durch sich oder durch andere, heimlich oder offen, direkt oder indirekt, unter dem Scheine des Rechts oder auf dem Wege der Gewalt, innerhalb des Reiches oder irgendwie außerhalb desselben antun oder anzutun befehlen oder zulassen, und keinerlei frühere auf das Gegenteil abzielende Verträge können hier entgegenstehen. Vielmehr sollen alle und jede von beiden Seiten sowohl vor dem Kriege als im Kriege durch Wort, Schrift oder Tat zugefügten Unbilden, Gewaltsamkeiten, Feindseligkeiten, Schäden, Unkosten ohne jedes Ansehen der Person oder Sache derartig gänzlich abgetan sein, daß alles, was immer der eine gegen den anderen unter diesem Titel vorgeben könnte, in ewiger Vergessenheit begraben sei.“

Es handelt sich um Artikel II, Überschrift: „Prinzipien“, des Vertrages von Münster und Osnabrück von 1648, des Westfälischen Friedens, der einen drei Jahrzente tobenden, blutigen Konfessions-, also Gesinnungskrieg beendete.18 Ein Konfessionskrieg ist sozusagen der Vorläufer dessen, was wir heute mit den ideologischen Revolutionskriegen hinter uns haben.

Man kann Komparatisten immer angreifen, und ich selbst betrachte mich ja als einen „historischen“ Soialwissenschaftler, als einen, der die Kontingent des Geschehenden unablässig betont. Das heißt aber auch, daß es keine „universellen, generellen“ Geschichtsgesetze und mithin auch (im strengen Sinne) keine Vorbilder und keine Vergleichsmaßstäbe in der Geschichte gibt. Und doch: gegenüber der Auffassung, daß Völker nicht vergeben können, mache ich als historisch gebildeter Politologe geltend, daß dies zwar stimmen mag im theologischen Sinne, daß es aber Friedensschlüsse gegeben hat und wieder geben muß von dieser eben zitierten Art, und daß dies die Art ist, in der, vermittelt durch ihre Staaten, Völker „vergessen“.

Wir haben in Europa nach 1945 immer noch keinen Frieden als „Friedensvertrag“. Ich darf noch ein Rechtsdokument zitieren, um deutlich zu machen, wie brisant die Situation durch diese Perpetuierung des Unfriedens geworden ist: Im Jahre 1948 hat die UNO eine Konvention verabschiedet, der 1954 die Bundesrepublik beigetreten ist (also lange bevor sie UNO-Mitglied wurde). Diese Konvention der UNO dient der Verhütung und Bestrafung von Völkermord (Fremdwort: Genozid), und da wird auch definiert, was als Völkermord gilt. Der entscheidende Passus aus dieser Definition lautet:

Jede Handlung, die in der Absicht begangen wird, ganz oder in Teilen eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe zu zerstören, nämlich

a) Ermordung von Gruppenmitgliedern

b) schwere Verletzung der physischen oder geistigen Integrität von Gruppenmitgliedern,

c) …

d) …“ 19

Die Deutschen können sich also auf das Völkerrecht berufen zur Verteidigung ihrer Identität gegen deren Zerstörung, mithin auch gegen eine Aufspaltung ihrer Einheit. Wir müssen lernen: Nicht nur die Identitäten von Völkern der Dritten Welt gilt es zu bewahren, und nicht nur die Existenz von gefährdeten Arten in der Tierwelt: Wale, Robben, Adler, Störche, sondern es lohnt sich die Erwägung, ob auch die Deutschen als historisch gewordenes politisches Dasein bewahrenswert sind.

 

IV.

Nun aber: Was steht dem entgegen, welche Schwierigkeiten gibt es da? Es gilt doch wohl zu erkennen, daß mit der Eskalierung des Gesinnungspolitik, mit dem Gottfern-Werden des Politischen, mit dem hybriden Entschluß á la Marx, Geschichte „selbst in die Hand zu nehmen“ (und der Nationalsozialismus war insofern nur eine Antwort auf den Marxismus meinend, ihm auf der gleichen Ebene begegnen zu müssen), – es gilt zu erkennen, daß im Verfolg dieser Säkularisierung politischen Tuns Grausames und Grauenhaftes geschehen ist, von der Französischen Revolution bis heute. Selbst früher, als Politik noch rückgebunden erschien an den christlichen Gott (wenn auch verschiedener Konfession), erwies der 30jährige Krieg, welche Folgen eine Politik haben kann, die sich durch (Offenbarungs-)Wahrheiten legitimiert fühlt.

Was die einzelnen Völker hier tun und getan haben, das ist gleichsam als „repräsentatives Handeln für Menschsein überhaupt“ zu werten, das zeigt, wessen der Mensch fähig ist. Er ist nicht nur zu großen, edlen, mutigen, tapferen, sittlichen Taten fähig, er ist sichtbarlich auch zu allem möglichen Grauenhaften fähig. Das haben offenbar die Politiker früher noch besser gewußt, wenn sie schließlich entschieden: das kann man nicht ewig am Kochen halten, irgendwann muß der mörderische Zwist der Vergangenheit durch gegenwärtigen Frieden überwunden werden, und zwar ohne dabei Vergangenheit zu verfälschen oder zu verdrängen.

In Bezug auf die Tatsache, daß wir nun nur (oder schon?) 40 Jahre vom 8. Mai 1945 entfernt sind, dürfen wir zwei Punkte erwähnen, die insbesondere angesichts der noch lebenden Zeitzeugen von Belang sind, von denen hier wiederholt gesprochen wurde: Erstens: Es ist historisch unkorrekt, die deutsche Geschichte auf das Dritte Reich zu reduzieren. Es ist aber selbst historisch unkorrekt, die Jahre von 1933 bis 1945 nur und exklusiv unter dem Gesichtspunkt von Auschwitz zu sehen. Es ist kein Zweifel, daß dieses geschehen ist, und es ist einmalig in der Geschichte – alles ist einmalig in der Geschichte –, aber es ist nicht wahr, daß alle Deutschen von 1933 bis 1945 sozusagen nur unter dem Bewußtsein der Judenvernichtung gelebt haben. Nicht einmal alle Juden in Deutschland haben dies bis 1938/39 getan.

Dazu die Stimme eines unverdächtigen Beobachters: Der Leiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, Martin Broszat, hat einen Bericht über den Stand der Forschung zum Nationalsozialismus abgegeben, in dem er folgendes sagt:

Was haben denn nun 40 Jahre der Forschung über den Nationalsozialismus erbracht? Viel Detailforschungen, die aber bisher noch nicht in ein differenziertes Gesamtbild eingeordnet worden sind. Aus der Geschichte der NS-Diktatur ist bislang noch keine Geschichte der nationalsozialistischen Zeit geworden. Die neue Sachlichkeit einer umfassenden Darstellung fehlt. In der Geschichtsschreibung dominiert noch immer der übermächtige Eindruck des katastrophalen Endes.“ 20

Gegenteiliges wird aber seit geraumer Zeit immer wieder vertreten. Das berühmteste Zitat stammt von meinem geschätzten älteren Fachkollegen Theodor Eschenburg, dem Politologen in Tübingen:

Bei der Frage nach der Schuld am Zweiten Weltkrieg, die wissenschaftlich eindeutig beantwortet ist, handelt es sich nicht etwa um eine fachhistorische Angelegenheit. Die Erkenntnis von der unbestrittenen und alleinigen Schuld Hitlers ist vielmehr eine Grundlage der Politik der Bundesrepublik.“ 21

Ich glaube, daß die überwiegende Mehrzahl der hier Anwesenden diesen Satz unterstreichen wird. Er ist aber in Frage zu stellen – einfach unter dem Gesichtspunkt historischer Wahrheit. Ich bin in der Lage, auch hier wieder unverdächtige Dritte zitieren zu können. Es ist kürzlich ein Buch meines Heidelberger Kollegen, des jetzt in Graz lehrenden Soziologen Albert Topitsch, erschienen, mit dem Titel: „Stalins Krieg“.22 Es handelt sich um einen Versuch, den erheblichen Anteil aufzuweisen, welchen Stalins Außenpolitik an der Entfesselung und Durchführung des Zweiten Weltkrieges gehabt hat. Die historische Wahrheit trägt nämlich nicht den Satz: „… als 1939 die Deutschen unter Hitler Polen angriffen“, sondern die historische Forschung muß heute schlußfolgern: „als Hitler und Stalin 1939 in Polen angriffen“. Stalins Nichtangriffspakt mit Hitler im August 1939 kann verstanden werden als eine höchst trickreiche Fortsetzung der Leninschen Linie außenpolitischer Strategie, jeden Zwist zwischen den kapitalistischen Mächten zu schüren und daraus für das internationale Proletariat unter Führung der Sowjetunion Vorteile zu ziehen. Was meist in diesem Zusammenhang vergessen wird, ist, daß Stalin dieselbe Maxime auch in Ostasien angewandt hat; er schloß, noch bevor der Europäische Krieg von 1939 zum Zweiten Weltkrieg eskalierte, also vor dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941, einen Nichtangriffspakt mit Japan. Dieser hatte praktisch nicht nur die Funktion, der Sowjetunion gegenüber Deutschland den Rücken freizuhalten, sondern auch, Japan gegenüber den USA den Rücken freizuhalten. Diese Funktion wurde bekanntlich von Pearl Harbor bis Hiroshima erfüllt, und erst 5 Minuten vor der japanischen Kapitulation hat Stalin dann diesen Nichtangriffspakt gekündigt, trat gegen Japan in den Krieg ein und kassierte schließlich die Kurilen (was bis heute einen Friedensabschluß nach dem Sowjetisch-Japanischen 5-Tage-Krieg von 1945 unmöglich gemacht hat).

Es sind mithin die Jahre von 1933 bis 1945 nicht als eine einzige deutsche Schuldorgie zu betrachten. Das sind sie nur in propagandistischer Überspitzung, ebenso wie die Reduktion der Französischen Revolution auf den Terror Robespierres und Napoleons Ermordung des Herzogs von Enghien, oder die exklusive Interpretation der Russischen Revolution unter dem Fokus der Ermordung der Zarenfamilie, der Liquidierung der Kulaken und der Opfer von Stalins Schauprozessen. Es gilt in jeden Falle, auch anderes zu beachten, und die Historiker sind aufgefordert, dieses hervorzuholen. Erst dann kann überhaupt wieder auch Frieden zwischen den Generationen sein, denn kein Sohn kann natürlich seinen Vater achten, wenn er aufwächst in der Auffassung, daß vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 in Deutschland nichts weiter als Bespitzelung, Opportunismus, Terror und Völkermord vonstatten gegangen sei. Das entspricht eben nicht der historischen Wahrheit!

Angesichts solcher propagandistisch verzerrten „totalisierten Schuld“ wirkt sich das andauernde Fehlen eines Friedensvertrags für Mitteleuropa besonders katastrophal deshalb aus, weil eine Klausel von jener Amnestiewirkung fehlt, wie sie zur großen Beruhigung der Völker alle anderen Friedensverträge enthalten hatten (außer Versailles), so wie der oben zitierte Vertrag von Münster und Osnabrück, – unterstellt, daß es eine solche Klausel überhaupt noch geben kann in diesem ideologisierten Zeitalter. Es wird ja nicht einmal eine Prozedur in Gang gesetzt, die den immer wieder erneuerten und erinnerten totalen Schuldvorwurf gegen ein ganzes Volk zu irgendeinem „Abschluß“ bringen könnte, der ja nicht Schweigen, Vergessen, Vergeben bedeuten müßte, sondern der gleichsam die Erlangung eines „Urteils“ mit sich führte und „Abschluß“ dann insofern bedeutet, als wenigstens bekannt ist, welche Buße, Strafe oder Sühne zu leisten ist.

Der heute aber vorherrschende Zustand hat für die Identität und das Identitätsbewußtsein der Deutschen, insbesondere der jungen Deutschen, intensive Folgen: die unerledigt offengehaltene Wunde des Prometheus beschert den Deutschen nicht nur schwere Neurosen, sondern es kommt massiv zu kollektiven Identitätsverlusten. Junge Menschen brauchen gar nicht mehr bewußt „aus dem Deutschtum zu desertieren“ – sie empfinden sich überhaupt nicht mehr als Deutsche. (Ich besuchte mit meiner Tochter in Wien vor ein paar Jahren Schloß Schönbrunn. Die Gloriette, jener offene Bogenbau, den sich die Kaiserin Maria Theresia zum Abschluß des Horizonts im Schloßpark hatte setzen lassen, fand sich über und über mit Parolen beschmiert, Graffiti. Da stand z.B.: „Wien braucht Hasch“, aber da stand auch: „Fuck the nation“. Und niemand protestiert gegen so etwas; Gotteslästerung ist immer noch strafbar.) – Das aber führt zur Flucht, das führt zur Auflösung jeglicher politischer Position, und man braucht sich nicht zu wundern, wenn in historischer, geographischer wie politischer Hinsicht in Mitteleuropa bald nichts mehr vorhanden ist, kein Land, kein Volk, keine „Herrschaft“, sondern nur ein Streusand von schnell zusammenkehrbaren, hilflosen Individuen, eben von „Bewohnern“.

Ein bloßer Verfassungspatriotismus, wie er gelegentlich vertreten wird, hilft hier nicht. Es würde anderes helfen, z.B. schlicht und einfach Annexion. Ich bin mir darüber im klaren, daß es nach 1945 sicherlich nicht wenige Deutsche gegeben hat, die es noch nicht einmal als schlimm, sondern als eine Art von Lösung betrachtet hätten, wenn die Bundesrepublik als 51. Staat in die USA übernommen worden wäre – was durchaus möglich ist, denn Hawaii und Alaska (der 49. und 50. Staat) liegen ja auch räumlich entfernt von der Hauptlandmasse der USA. Und Erwägungen, die DDR, so wie Polen und die Tschechoslowakei irgendwann einmal als weitere föderalistische Republiken der Sowjetunion zuzuschlagen, werden ja auch immer einmal wieder angestellt.

Das nun wäre nichts anderes als Sezession, Separation, Annexion, und das würde funktionieren, und hat im Laufe der Geschichte funktioniert, und dann wüßten wir wenigstens, welcher Identität wir sind. Ein Teil meiner Jahrgangskollegen ist seit dem Zweiten Weltkrieg nach Kanada, USA, Australien ausgewandert. Sie selbst und ihre Kinder sind längst kanadische, neuseeländische, amerikanische Staatsbürger. So wäre auch Annexion oder Sezession eine Lösung für Deutschland. Aber diese Lösung ist eben staatsrechtlich bisher nicht ergriffen worden. (Bitte kein Mißverständnis: ich empfehle diese Lösung hiermit nicht. Ich möchte nur durch Gedankenexperimente den Blick für die Lage schärfen.)

Auf dieser Ebene läge eine andere Lösung, auch eine Art von „Separation“ oder „Sezession“, nämlich die wirkliche Erhebung der Bundesrepublik – und entsprechend „partnerschaftlich“ der DDR – zu völlig ihrer Identität gewissen „neuen“ Staaten, – nicht mehr „Fortsetzer“ des Deutschen Reiches. Obwohl das manchmal vertreten wird, und obwohl ich gelegentlich unter jungen Leuten solche treffe, die meinen, die Antwort auf die Frage nach ihrer Staatsangehörigkeit sei die, „Bundesrepublikaner“ zu sein, – so ist doch diese Möglichkeit bis heute noch nicht offiziell ergriffen worden. Noch sind die beiden deutschen Teilstaaten nicht voll in ihre Teilidentität hinein sezediert; mag in der DDR die Formel vom „sozialistischen Staat deutscher Nation“ als für die kommunistische Funktionärselite verbindliche Staatslegitimation dahin tendieren, – für die überwiegende Mehrheit der Bewohner ist die DDR ein deutscher Teilstaat, der unter Besatzungszwang einstweilen „abgespalten“ wurde. Und für Westdeutschland gilt, als offizielles Staatsverständnis nach wie vor die Präambel des Grundgesetzes, welche die Bundesrepublik schlicht für „Deutschland“ erklärt.

 

V.

Fazit: Auf die Frage: „Wer sind wir denn jetzt nach Umerziehung, nach Negierung der Identität, nach Spaltung, nach dem unterbrochenen Weltbürgerkrieg, auf den noch kein Friede gefolgt ist?“ – da ist als Antwort 40 Jahre nach „unconditional surrender“ immer noch dieselbe zu geben: wir sind nach wie vor die Deutschen. Das ist unsere primäre und zentrale politische Obligation.

Man mag noch gerne das Adjektiv dazusetzen: die demokratischen Deutschen, dann muß man aber sofort zur historischen und juristischen Präzisierung hinzufügen: die westdemokratischen Deutschen. Und damit gerät man, zwecks Abgrenzung von den auch, bloß eben „anders“, demokratisch sein sollenden Mitteldeutschen, sofort wieder in den nicht endgültig ausgetragenen Weltbürgerkrieg, diesen Gesinnungskampf auf dessen Basis keine endgültige Identität zu gewinnen ist vor Armageddon, vor dem „Endsieg einer Klasse“.

Und wenn das so ist, dann stellen sich die Fragen der deutschen Zukunft nicht anders als sie sich in den vergangenen Jahrhunderten gestellt haben. Es ist verflixt schwer, Volk in der Mitte Europas zu sein ohne sichere, geographisch gesicherte Grenzen. Wir erfreuen uns keiner Pyrenäengrenze, keines „Channels“ oder Atlantiks für „Splendid Isolation“. Ich möchte nicht viel mehr dazu sagen als nur drei Zitate eines amerikanischen Kollegen – wieder ein unverdächtiger Zeuge. Der Italo-Amerikaner David Calleo schreibt in seinem 1980 auf englisch erschienenen Buch „Legende und Wirklichkeit der deutschen Gefahr“23:

Deutschlands Aggressivität gegen die internationale Ordnung läßt sich aus der Beschaffenheit dieser Ordnung heraus ebenso plausibel erklären, wie aus einer der besonderen Eigenschaften der Deutschen. Sogar die Nazi-Episode kann man weniger als Folge eines angeborenen Fehlers der deutschen Kultur interpretieren oder als ein gewissermaßen eigengesetzlich zum Ausbruch kommendes nationales Geschwür, das sich nach einem eigenen Rhythmus entwickelt, sondern als Folge des intensiven Drucks, der von außen her auf Deutschland lastete. Geographie und Geschichte hatten sich verschworen, Deutschland zu einem späten, raschen, anfechtbaren und umkämpften Aufstieg zu verhelfen. Die übrige Welt reagierte darauf, indem sie den Emporkömmling zermalmte.“

Ich hege die Hoffnung“, schreibt Calleo weiter, „daß ich zu einem ausgeglicheneren Verständnis für die Rolle Deutschlands in der modernen Geschichte enregen kann. Es sollte zumindest ein Verständnis sein, das nicht so offensichtlich wie das heute vorherrschende auf den Status quo der Nachkriegszeit zugeschnitten ist, und es sollte auch auf die unverminderte Relevanz traditioneller Probleme der neuzeitlichen Geschichte des Westens aufmerksam machen. Die Weltgeschichte hat 1945 weder angefangen, noch ist sie damals zu Ende gegangen. Sie hörte nicht auf mit Hegels preußischem Staat, und es ist auch nicht anzunehmen, daß sie vor unserer Pax Americana halt macht.

Und eine letzte Passage von Calleo: „Deutschland ist zu groß, um entweder eine Schweiz oder ein Schweden zu werden. Seine Produktionskosten sind auch bereits zu hoch, um ein Japan sein zu können. Doch seine Industrie arbeitet weiterhin auch zu gut, um ein Großbritannien zu werden … In der Nachkriegszeit haben die Deutschen eine Art Urlaub von ihren traditionellen Problemen genossen. Sollte diese Zeit zu Ende gehen und sollten die alten Probleme wiederkehren, was nicht unwahrscheinlich scheint, dann kann sich Westdeutschland kaum der Aufgabe entziehen, in der Entwicklung der atlantischen und der europäischen Systeme eine entscheidende Rolle zu spielen. Die Deutschen werden einmal mehr ihr eigenes Geschick selbst in die Hand nehmen. In der Vergangenheit waren sie bei solchen Herausforderungen nicht besonders erfolgreich. Diesmal sind die Aussichten vielleicht etwas vielversprechender.“

 

Anmerkungen

1 Dies berühmte Zitat von Karl Marx in: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – Einleitung, in: Aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern (1843/44), zitiert aus Karl Marx: Die Frühschriften, hrsg. von S. Landshut, Kröners Taschenausgabe Band 209, Stuttgart 1953, S. 208. – Im Original ist „Opium“ gesperrt gedruckt.

2 Zum Begriff „Politische Theologie“ besonders Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München u. Leipzig 1922, sowie derselbe: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970; als Beispiel für die Auseinandersetzung damit Klaus-Michael Kodalle: Politik als Macht und Mythos. Carl Schmitts „Politische Theologie“, Kohlhammer Urban-Taschenbücher Reihe 80, Band 842, Stuttgart usw. 1973.

3 Dieser Ausspruch des Albericus Gentilis zitiert bei Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 92; Schmitt bezeichnet den Satz als „die wissenssoziologische Parole der Epoche“.

4 Vgl. dazu den Aufsatz von Bernard Willms: Weltbürgerkrieg und Nationaistaat. Thomas Hobbes, Friedrich Meinecke und die Möglichkeit der Geschichtsphilosophie im 20. Jahrhundert, in Der Staat, 22. Band 1983, Heft 4, S. 499 ff.

5 Sogar der amerikanische Politologe Harold Lasswell spricht von dem notwendigen „Quest Of Identity“: „Who am I? Or rather, as whom shall I identify myself?“, in: Politics – Who gets What, When, How?, 1936 (veränderte Auflage N.Y. 1958, p. 194).

6 Ernest Renan: Qu’est-ce qu’une nation?, 1882, p. 306 307.

7 Genau und vollständig heißt es bei Renan (ebenda): „… la possession en commun d’un riche legs de souvenirs, … le consentement actuel, le désir de vivre ensemble, la volonté de continuer à faire valoir l’héritage qu’on an reçu indivisible … L’homme … ne s’improvise pas. La nation, comme l’individu, est l’aboutissement d’un long passe d’efforts, de sacrifices et de dévouements.“ Und es wird nicht nur festgestellt: „ Avoir de gloires communes dans le passé; une volonte commune dans le présent; avoir fait de grandes choses ensemble, vouloir en faire encore, voilà les conditions essentielles pour être un peuple“ – sondern es folgt gleich darauf: „… avoir souffert, joui, espéré ensemble …“

8 Arnold Toynbee spricht hier von „Challenge“ und „Response“ (A.A. Toynbee: A Study of History. 10 Bde., 1934-54; R.G. Collingwood: The Idea of History, Oxford 1951, handelt von einer „Question-Answer-Logic“. – Eine der methodisch besten Studien über die historische Bildung des politischen Bewußtseins stammt von dem Hungaro-Amerikanischen Historiker John Lukacs: Historical Consciousness or the remembered past, New York usw. 1968. – Vgl. dazu auch den treffenden Aufsatz des Althistorikers A. Heuß: Kontingenz in der Geschichte, in: Neue Hefte für Philosophie 24/25 (1985) S. 1-13.

9 Vgl. dazu W. Sulzbach: Die Zufälligkeit der Nationen und die Inhaltlosigkeit der internationalen Politik, Berlin 1969 (von einem anderen Standpunkt als dem von uns bezogenen aus geschrieben).

10 Zur Lage des Besiegten im gerechten Krieg der ausgezeichnete Beitrag von Dieter Blumenwitz: Der Besiegte in einem „gerechten Krieg“, in Anton Peisl und Armin Mohler (Hrsg.): Die Deutsche Neurose. Über die beschädigte Identität der Deutschen, Schriften der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Bd. 3, Frankfurt/Berlin/Wien 1980, S. 103 ff.

11 Vgl. dazu den oben (Anmerkung 4) schon zitierten Beitrag von Willms sowie das Werk des deutschen Soziologen Hanno Kesting: Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959.

12 Historische Untersuchung dazu von Reimer Hansen: Das Ende des Dritten Reiches. Die deutsche Kapitulation 1945, Stuttgart 1966. – Eine hinsichtlich der Fakten nicht immer ganz zuverlässige, aber im Zugriff bedeutsame Untersuchung zum Komplex „Besiegte und Befreite“ stammt von dem Franzosen Paul Sérant: dt. Die politischen Säuberungen in Westeuropa am Ende des Zweiten Weltkrieges, Stalling-Verlag, Oldenburg u. Hamburg o.J. (1966); der französische Titel ist viel treffender: Les vaincus de la libération, bei Robert Lafont, Paris.

13 Dazu die Autobiographie von Luitpold Steidle: Entscheidung an der Wolga, 1974.

14 So der gleichnamige Artikel von Dolf Sternberger in: FAZ, 23.05.1979.

15 Zitiert in Geoffrey Gorer: The American People. A Study in National Character, New York 1948, p. 23. – Frei übersetzt: Wenn wir landen, so werden wir auf deutsche und italienische Soldaten treffen, die anzugreifen und zu vernichten unsere Ehre und unser Privileg sein wird. – Viele von Euch haben in ihren Adern deutsches und italienisches Blut, aber denkt stets daran, daß diese Eure Ahnen die Freiheit so liebten, daß sie Heim und Vaterland aufgaben, um den Ozean auf der Suche nach dieser Freiheit zu überqueren. Die Ahnen jener Leute, die wir morgen töten werden, ließen genau diesen Mut zu einem solchen Opfer vermissen und lebten weiter als Sklaven.

160) Dazu Hans-Ulrich Wehler: „Deutscher Sonderweg“ oder allgemeine Probleme des westlichen Kapitalismus? Zur Kritik an einigen „Mythen deutscher Geschichtsschreibung“, in: Merkur, Nr. 396, 5/1981. Vgl. zum deutschen Sonderweg und seinen Revisionen auch die Schriften von Blackbourn und Eley sowie Calleo in der folgenden Anmerkung, sowie meinen Aufsatz „Identitätsstörungen bei Jugendlichen und Geschichtsbewußtsein“ in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 1984, S. 115ff.

17 So etwas David Blackbourn / Geoff Eley: Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848. Sozialgeschichtliche Bibliothek, hrsg. von Dieter Groh, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1980 (Ullstein Materialien); des weiteren David P. Calleo: Legende und Wirklichkeit der deutschen Gefahr. Neue Aspekte zur Rolle Deutschlands in der Weltgeschichte von Bismarck bis heute (Originaltitel: The German Problem Reconsidered. Germany and the World Order, 1870 to the Present), dt. Bonn 1981.

18 Friedensvertrag von Osnabrück 25. Oktober 1648, Artikel II; Friedensvertrag von Münster desselben Datums und im gleichen Wortlaut, Artikel 2, abgedruckt in: Der Westfälische Friede von 1648, herausgegeben von F.U. Six, Berlin 1940, S. 4 u. 95.

19 United Nations Treaty Series 1951, vol. 78, No. 1021, Artikel II, p. 280/81.(Hervorhebung vom Verfasser) Die Bundesrepublik trat 1954 bei (Bundesgesetzblatt 1954 I 729). Die entsprechende Passage des Absatzes b) lautet in der anerkannten Originalsprache Französisch: „Atteinte grave à l’intégrité physique ou mentale de membres du groupe.“

20 Martin Broszat: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: Merkur 39 (1985), H. 5, S. 373; vgl. dazu die Rezension von Arnulf Baring: Aus politischen Zeitschriften. Spielräume unter der Herrschaft des NS-Regimes, in: FAZ 6.8.1985.

21 Theodor Eschenburg: Institutionelle Sorgen in der Bundesrepublik. Politische Aufsätze 1957-61, Stuttgart 1961, S. 164.

22 Ernst Topitsch: Stalins Krieg. Die systematische Langzeitstrategie gegen den Westen als rationale Machtpolitik, München 1985. – Weitere, die bisherige Geschichtsinterpretation revidierende Literatur von Historikern: Andreas Hillgruber: Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reiches von 1871-1945, Düsseldorf 1984; ders.: Die Last der Nation. 5 Beiträge über Deutschland und die Deutschen, Düsseldorf 1984; sowie ders.: Der Zusammenbruch im Osten 1944/45 als Problem der deutschen Nationalgeschichte und der europäischen Geschichte. Vortrag G 277, Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Opladen 1985; sowie Dirk Bavendamm: Roosevelts Weg zum Krieg. Amerikanische Politik 1914-1939, München 1983; Dirk Kunert: Ein Weltkrieg wird programmiert. Hitler, Roosevelt, Stalin: Die Vorgeschichte des 2. Weltkrieges nach Primärquellen, Kiel 1984.

23 David Calleo (siehe oben Anmerkung 17), dt. Fassung, S. 23, 26, 280/285.

 

Autor: Hans-Joachim Arndt
Titel: Geschichtsbewußtsein und Zukunftsoption der Deutschen
Untertitel: Lektorierte Bandabschrift eines Referats am 13.10.1985 in der Evangelischen Akademie Baden
„Scholien aus San Casciano“ – ISSN 2199-3548 – ID 2014039
URL: https://scholien.wordpress.com/lizentiatur/praecetum/2015040-2/